Es genügt, “nur noch bei wirklich lebenden Beamten nachzufragen”

Wenn immer mehr, aber immer weniger nützliche Daten lähmen — was wir aus dem Niedergang des “landesherrlichen Visitationsverfahrens” im 18. Jahrhundert für heute lernen

Lukas Oldenburg
12 min readJun 25, 2020
Bayern 1772 (na ja, nicht wirklich)

Selten hat mich ein Podcast so begeistert wie die unterhaltsame Vorlesung von Birgit Näther, Verwaltungshistorikerin der FU Berlin, zu einem Thema, das jetzt nicht unbedingt den verführendsten Titel trägt: “Frühe Neuzeit: Wenn Routinen die Verwaltung lähmen(Teil der tollen “Hörsaal”-Podcast-Serie von Deutschlandfunk Nova).

Wie bringt man Menschen zum “Folgen”?

Es geht um das alte Problem: Wie bringt man Herrschaft in die Fläche? Nur weil der Bundestag ein Gesetz erlässt, passiert ja in Eutingen im Gäu noch gar nichts. Und mit Armee- und Polizeigewalt oder (im Unternehmen) psychischem Druck klappt das höchstens kurzzeitig und ist ineffizient.

Herrschaft vs. Macht

Nach Max Weber ist Herrschaft die “Chance”, dass bestimmte Personen bestimmten Befehlen (freiwillig) gehorchen. Solcherlei Herrschaft setzt Legitimität voraus, also Akzeptanz bei den Beherrschten. Die Herrschende zwingt die Beherrschten also gerade nicht mit Gewalt, ihr zu folgen. Gewalt kommt nur in Ausnahmefällen zur Anwendung, und dann nur legitime Gewalt, also eben allgemein akzeptierte Gewalt. Dabei darf man nicht den Fehler der Rechtspositivisten machen, “legitim” gleichzusetzen mit “rechtlich legitim”. Denn lange nicht alles, was im Gesetz steht, hat auch subjektive Legitimität im Volk, auch wenn das manche naive Juristen der Bequemlichkeit halber so annehmen. Bei “Macht” hingegen spielt die Legitimität keine Rolle, Macht kann man auch mit bloßer Gewalt ausüben.

Wie bringt man also Herrschaft in die Provinz (oder in Unterunterabteilungen eines Unternehmens)? Das Thema fasziniert mich seit Langem. In manchen Fällen funktioniert das ja ganz gut, in anderen gibt es massiven Widerstand (Katalonien) gegen die Zentrale, in vielen Gegenden wiederum wirtschaften die lokalen Amtsträger am liebsten in die eigene Tasche (Verwaltungskorruption ist ein Jahrtausende altes Herrschaftsproblem) oder es “herrschen” im wahrsten Sinne des Wortes parallele Herrschaftsstrukturen, “Staaten im Staat” (z.B. die Mafia in Süditalien). Das ist dann die Vorstufe von “failed states” wie Somalia, wo der Staat zwar offiziell existiert, aber in weiten Teilen nicht mehr “herrscht”. Während der Corona-Pandemie hatten wir ein besonders interessantes Beispiel dafür, wie es Staaten mal mit mehr, mal weniger Gewalt(androhung) schaffen, ihre Bürgerinnen zum Folgen zu bewegen.

Wie findet der Kurfürst in München heraus, ob die Beamten in Deggendorf sich bestechen lassen?

Die wichtigste Komponente in der Ausübung von Herrschaft ist nicht das Wahlsystem, die Beliebtheit der Herrschenden oder deren Verhältnis zu Uli Hoeneß (das kam erst in der Postmoderne), sondern: der staatliche Verwaltungsapparat. Denn nur die Verwaltungsbeamten in den Städten und Dörfern stehen in direktem Kontakt zu den Untertanen — Kabelfernsehen nach Altötting wurde ja erst 1810 von Napoleon höchstpersönlich eingerichtet. Abgesehen von gelegentlichen Kriegen waren daher fast nur die Handlungen der Verwaltungsbeamten eine Form von direktem staatlichen Einfluss auf den Alltag der Menschen in der Provinz.

Birgit Näther fragt also: Wie kontrolliert der bayerische Kurfürst (die Zentrale) im 16. bis 18. Jahrhundert die Beamten in der Provinz?

Das geht so: 1574 regt die kurfürstliche Zentrale das landesherrliche Visitationsverfahren” an, für einen Gesetzgeber aus heutiger Sicht eine unglaublich vage Anordnung, die keinerlei Details vorgibt. Sogar die Form (mündlich oder schriftlich) bleibt offen. Das Verfahren bittet die “Mittelbehörden” der damaligen ober- und niederbayerischen Verwaltungszentren (Burghausen, München, Straubing und Landshut), regelmäßig in den ihnen unterstellten Ortschaften vorbeizureiten (“Umritt”), dabei nützliche Informationen über die Arbeit der Behörden und das Wohlbefinden der Untertanen zu sammeln und dann die Zentrale in München mit den Erkenntnissen zu beglücken. [So sah Bayern damals ugf. aus.]

“Besondere Obacht” auf die Köchin des Pfarrers, “und zwar in neun Monaten”

Konkret: Wenn der Dorflehrer säuft, wenn der Sepp von der Mautstelle sich bestechen lässt (“Trinkgeld”), wenn Bauern über Ernte vernichtende Wildschweinplagen klagen, wenn der Pfarrer so taub geworden ist, dass er eigentlich keine Messen mehr lesen sollte, oder wenn man auf des Pfarrers Köchin “besondere Obacht haben möge, und zwar in neun Monaten”, dann will die Zentrale in München das wissen und darauf reagieren können. Es geht also — und damit sind wir in der Analytics-Welt — um den uralten Kreislauf:

a) Daten sammeln: Die Beamten kontrollieren und ausfragen, die Untertaninnen unter der Dorflinde versammeln und befragen, ob das denn stimme, was die Beamten erzählen (eine Form von 360-Grad-Feedback oder nicht-anonymen Mitarbeiterbefragungen aka “Denunzierung”), die Kassenbücher der Amtsstellen und die Urteile der lokalen Gerichte einsammeln, in Reinschrift bringen, Akten anlegen etc.
b) Daten konsolidieren und auswerten: Die Zentrale in München bekommt diese ganzen “Daten”, liest sie und wertet sie aus, also prüft zum Beispiel die Kassenbücher oder klebt die Beschwerden über Beamte in deren Personalakte.
c) Handlungen ableiten:
Die kirchlichen Zentralinstanzen über den tauben Pfarrer in Schrobenhausen informieren, den Beamten in Wolfratshausen, der “Trinkgeld” nimmt, rügen; im nächsten Frühjahr Aushilfsjäger nach Furth im Wald schicken, um der Wölfe und Wildschweine Herr zu werden.

Absolutismus = sklavische Gefolgschaft — von wegen!

Durch die Bank zeigt sich wieder, dass wir ein naives Bild von absolutistischen Herrschaftssystemen haben. Nach unserer Schulgeschichtsbildung würden wir davon ausgehen, dass der König/Kurfürst etwas befiehlt, und das wird dann geradezu sklavisch bis nach unten hin befolgt. Ganz im Gegenteil sagt der Fürst aber nur vage, er wolle regelmäßig informiert werden, wie es um die Amtsstuben der Provinz steht. Heute würde man das “Führen nach (sehr groben) Zielen” nennen. [Der wirkliche bürokratische Zentralismus entstand eigentlich erst im 19. Jahrhundert, als “dank” Napoleons Europatour jakobinische Staatsideale immer mehr um sich griffen.]

Nur fünf Eingriffe der Zentrale in 200 Jahren

Erst die Mittelbehörden geben diesem Verfahren anschließend Gestalt durch ihre Amtspraxis. Sie ignorieren die vagen und unvollständigen Vorgaben der Zentrale und erschaffen stattdessen ein detailliertes Verfahren. Sie definieren, welche Sachfelder wo und wie zu kontrollieren sind, in welcher Form man das Ganze verschriftlicht (sie legen also auch die Form der Dokumentation fest) etc. Anstatt die Mittelbehörden zurückzupfeifen, spielt die Zentrale dann aber ganz pragmatisch mit: Sie macht die die erste Verfahrenswelle zur Vorlage für die Verfahrensinstruktion im nächsten Jahr. Die Praxis der Mittelbehörden (was, wen, wie evaluieren) wird so also zur neuen zentralen Vorgabe. Korrekturen der Zentrale à la “Das Denunziationsverfahren ist gut, man sollte es aber diskreter durchführen” bleiben fast gänzlich aus: Näther zählt in 200 Jahren gerade mal fünf Eingriffe der Zentrale!

Im Gegensatz zum zentralistischen Absolutismusbild wirkt diese Arbeitsteilung zwischen Zentrale und Mittelbehörden wie ein Paradebeispiel für dezentralisierte Verwaltung: Die Zentrale übernimmt dankbar die Praxis der Peripherie und verstetigt diese zum neuen Standard. Oder ist es gar ein Beispiel für den “real existierenden Sozialismus” (zumindest in dessen Eigen-Propaganda)?

Schon im 16. Jahrhundert praktizierte die bayerische Verwaltung die “lebendige sozialistische Demokratie”, Quelle: Die Trommler, “Gedanken zu Aufgaben für Schulkinder der DDR”

Papier erzeugt mehr Papier

In den Jahren darauf entwickeln die Mittelbehörden das Verfahren immer weiter, und zwar wie folgt: Da ja immer das letzte Verfahren die Grundlage für das aktuelle Verfahren bildet, ist der Umfang vom letzten Jahr schon mal gesetzt. Da man aber mittlerweile entdeckt hat, dass es auch sinnvoll ist, den Zustand der Grenzmarkierungen und die Anzahl Spitalbetten mit Beatmungsgeräten zu erheben, erweitert man das Verfahren ein bisschen.

Von 30 Doppelseiten pro Jahr zu 4.000!

Das geschieht dann Jahr für Jahr immer wieder, und auch die Zentrale übernimmt immer wieder unreflektiert das Verfahrens-Update als Grundlage fürs nächste Jahr. Irgendwann ist das Verfahren so aufwändig geworden, dass die Mittelbehörden praxisfaul werden: Sie verzichten immer häufiger auf tatsächliche Inspektionen vor Ort und lassen zum Beispiel die aufwändigen, aber unangenehmen Befragungen der Untertanen unter der Dorflinde irgendwann ganz weg. Stattdessen liefern sie immer mehr einfach zu erfassende, aber umfangreichere Daten, zum Beispiel einfache Abschriften der örtlichen Amtsdokumente (obwohl die ihre Bücher ja auch einfach direkt nach München hätten schicken können). Aus einst 5–30 Doppelseiten pro Akte werden im 18. Jahrhundert schließlich 4.000!

Es entsteht so eine Flut aus immer mehr, aber immer weniger nützlichen Daten. Sounds familiar? “Datenkotzen” ist keine Erscheinung des Big-Data-Zeitalters.

“Es ist paradox: Einerseits sichern die Routinen das Verfahren, andererseits führen sie dazu, dass das Verfahren an Sinn verliert.”

Birgit Näther

Das Messen wird zum Selbstzweck

Mitte des 18. Jahrhunderts regt sich zwar dezenter Widerstand in den Mittelbehörden, aber da das mittlerweile absurde Verfahren Routine geworden ist, wird es weitergeführt. Statt einen Vorschlag zur Entschlackung zu erarbeiten, ist es weniger aufwändig, so weiterzumachen wie bisher. Man kritisiert zwar, macht aber keinen Verbesserungsvorschlag. Sounds familiar? Zumal der Hof in München das Verfahren trotz Kritik beibehalten will. Mittlerweile ist das Verfahren aber ein auch in Analytics-Kreisen verbreitetes “Kreisen um sich selbst” geworden. Das Verfahren wird um des Verfahrens willen durchgeführt, nicht, weil es sinnvoll ist. Das eigentliche Ziel, die herrschaftliche Kontrolle in der Provinz, wird hingegen nicht mehr erreicht.

Es genügt, “nur wirklich lebende Beamte zu befragen”

Schließlich kommt 1774, also nach 200 Jahren, dann doch zum ersten Mal ein reflektierter Vorschlag des Hofs. Er versucht, den Mittelbehörden die Weiterführung des Verfahrens schmackhaft zu machen, zeigt in fast flehendem Ton (wieder: von wegen absolutistische Zentralherrschaft!) Verständnis für die Beschwerlichkeit und schlägt sinnvolle und weniger sinnvolle Methoden zur Vereinfachung vor, zum Beispiel, dass es ausreiche, “nur noch bei wirklich lebenden Beamten nachzufragen”. Klar, dann geht das Ganze viel schneller! (Es soll aber auch wirklich sinnvolle Vorschläge gegeben haben.)

Ganz aufhören ist einfacher als reformieren

Die Mittelbehörden gehen auf diese “Instruction” des Hofs allerdings nicht ein. Statt diese als Startpunkt für Verfahrensentschlackungen zu nehmen, stellen sie das Verfahren einfach ein! Und dabei bleibt es auch, als der Hof aus München mehrfach mahnt, die Visitation wieder aufzunehmen (und hier nochmals: von wegen absolutistische Zentralherrschaft à la “L’Etat, c’est moi”!). Der erste Reformversuch in 200 Jahren wird also gleichzeitig zum Ende des Verfahrens.

Und was hat das jetzt mit Analytics zu tun?

Ich sehe mich beim Hören des Vortrags selber dabei, wie meine Chefin lediglich vorgibt (“Ziel”), eine nützliche, nachhaltige und nutzbare Analytics-Infrastruktur aufzubauen, die granulare Analysen der Leistung von Website-Funktionen, -Inhalten und Werbemitteln ermöglicht, um daraus Verbesserungen abzuleiten.

Ich, die Mittelbehörde

Ich spiele dann Mittelbehörde und konkretisiere das Ganze erst mal: Ich fange an, mit den künftigen Nutzerinnen zu definieren, was man alles wissen möchte, dann, was man dafür alles wie tracken muss, wähle die Technik, bestimme, welche Tools und Prozesse es braucht, um die Qualität zu überwachen, instruiere Mitarbeiter, erarbeite Standards für Schulungen etc.

Auch hier: Der Status Quo wird zum neuen Standard

Nun ist Jahr 2. Die Firma findet das Konstrukt (hoffentlich) gut, und es wird stillschweigend zum “Standard”. Das heißt, man erwartet mindestens das gleiche Niveau auch in diesem Jahr. Natürlich kommt auch etwas hinzu: Es entstehen Verbesserungen und Erweiterungen, wie zum Beispiel Importe von Profitmargen und fakturierten Umsätzen, hie und da schaffe ich weitere automatische Datenqualitäts- und Prozess-Checks — und die Schulungsunterlagen und Spezifikationen muss ich natürlich aktuell halten.

Die Wartung, die Wartung

Nach und nach entsteht ein immer mächtigeres System. Ich verbringe immer mehr Zeit mit der Wartung dieses Systems. Zum Teil lässt sich die Wartung automatisieren, aber auch die Automatisierung muss natürlich überwacht werden, Fehler müssen erkannt und behoben werden, bei Website-Releases muss ich peinlich darauf achten, dass bloß nichts vom bestehenden System kaputt geht etc…

Aus mir, dem Innovator, wird der Bewahrer

Vom anfänglichen Innovator und Revolutionär werde ich zum Bewahrer. Da die Wartung und Bewirtschaftung des Systems mein Hirn voll auslastet, bin ich nicht mehr offen für Reformen oder gar grundsätzliche Neuanfänge. Das Risiko von Nebeneffekten scheint zu groß. Und es ist kognitiv zu herausfordernd geworden, zu verstehen, was wo flöten gehen könnte, wenn man etwas verändert (und ob das dann jemanden jucken würde).

Warum neue Tech Leads immer alles neu machen wollen

Statt sich schmerzhaft zu überlegen, welche Sachen überhaupt noch gebraucht werden, ist es leichter, einfach alles laufen zu lassen, etwas effizienter zu machen und die gewonnene Effizienz dann dazu zu nutzen, noch das ein oder andere Feature hinzuzubauen. Und nun stelle man sich die Situation vor, in der ich die Firma verlassen habe und eine neue Analystin das alles übernehmen soll. Trotz vortrefflich pflichtgetreuer Übergabebemühungen meinerseits ist es auch für sie leichter, alles einfach neu zu machen — dabei werden zwangsläufig Sachen sterben, die nicht mehr gebraucht werden (denn sonst würde jemand frühzeitig danach schreien). Deshalb ist es bei technischen Systemen fast immer so, dass ein Führungswechsel dazu führt, dass alles neu gemacht wird— das geht mal gut aus, mal nicht.

Daten produzieren mehr Daten — und lähmen

Papier produziert noch mehr Papier. Neue Daten produzieren Fragen nach noch mehr Daten. Messen und Aufrechterhaltung der bestehenden Messungen und Datenintegrationen wird zum nur selten hinterfragten Selbstzweck. Ich verliere die geistige Kapazität, mich mit wirklich neuen Ansätzen zu beschäftigen, die mir langfristig helfen könnten, alles viel einfacher zu machen, oder zumindest “moderner”. Ich klage über die Situation, aber Ändern ist zu komplex und braucht daher zu viel Kraft. Da die Ebenen über mir von Analytics in der Regel nicht viel verstehen, kommen wenigstens keine idiotischen Vorgaben wie “es genügt, die Websites zu tracken, die auch wirklich besucht werden” oder “bitte nur die Nutzer tracken, die garantiert keine Bots sind” (thx Fabio Casutt).

Brauchen wir das alles wirklich?

Außerdem: die Datenflut. Es ist heute noch viel einfacher als damals, einfach noch mehr zu tracken. Macht man wirklich etwas Nützliches mit dem riesigen Datenberg, den das Tracking von Produktlisten, z.B. auf Suchergebnis- oder Kategorieseiten erzeugt? Oder den unvollständigen Suchbegriffen, weil man ja jedes Mal tracken möchte, wenn die Typeahead-Suche eine Ergebnisliste einblendet? Wer schaut sich die Millionen von Screen Recordings an (ich bin übrigens allein schon aus Datenschutzgründen gegen Screen Recording), die man doch in den meisten Fällen eigentlich nur für den Fall erhebt, dass man mal ein paar User Journeys von ein paar problematischen Segmenten nachvollziehen möchte? Wann hab ich das letzte Mal die Menge an scheduled PDF Reports entschlackt? Wann das Daily CEO Dashboard?

Auch wenn die ganzen “Experten” seit Jahrzehnten predigen, dass gute Dashboards kurz und knackig sein sollen: Es geht eigentlich meist in die andere Richtung: Die Dashboards wachsen, sie schrumpfen nicht. Die Zahl an Reports wird größer, nicht kleiner. Das ist zum Teil gut, denn wenn mehr Leute mehr Reports sinnvoll finden, ist das ja auch ein Zeichen dafür, dass die eingeführten Technologien gern genutzt werden. Aber irgendwann ist der Punkt erreicht, wo man für alles, was man hinzufügt, eigentlich etwas wegnehmen sollte. Den Punkt zu finden, ist schwer.

Kultur und Anreize zum Selberdenken und Handeln sind zentral

Zu guter Letzt scheint mir ein Punkt wichtig, der mir bei Kunden immer wieder begegnet: Die Mittelbehörden klagen ja über das beschwerliche Verfahren. Statt aber einen Reformvorschlag an den Hof zu schicken (schließlich war der Hof ja bisher empfänglich für Vorschläge der Basis), beklagen sie sich eben nur. Und als der Hof dann mit konkreten Anregungen kommt, sind sie überfordert und blockieren gänzlich.

“Der Chef hat das bisher immer so bekommen”

Es gibt auch heute noch genug Firmen, wo Mitarbeiter vor allem das tun, von dem sie glauben, dass ihre Chefin es will. Gerade in der Datenwelt kenne ich viele Beispiele von Mitarbeitern, die diese und jene Zahlen liefern “müssen”, weil man die halt schon immer so geliefert hat. Die Zahlen sind oft Metriken, die ähnlich unserem landesherrlichen Visitationsverfahren irgendwann mal definiert wurden und vielleicht auch mal sinnvoll waren, aber heute sind sie fraglich, oder es gibt viel bessere Indikatoren. Noch schlimmer ist, dass der Mitarbeiter oft nicht mal selber oder nur ganz vage versteht, warum und wofür diese Zahlen genutzt werden.

Lieber nichts falsch machen

Vielen Mitarbeitern ist das ganz recht. So können sie nichts falsch machen, niemand kann sie dafür kritisieren (Arschretter-Kultur). Das Schlimme ist aber, wenn Mitarbeiter so “erzogen” werden, also wenn man sie dafür bestraft, wenn sie selber denken und Verbesserungen einbringen, oder wenn sie die einzig richtigen Fragen stellen: Welche Fragen wollen wir mit diesen Zahlen denn beantworten? Gibt es dafür eventuell bessere Indikatoren? Bestrafung kann auch heißen: konstant ignorieren, auf die lange Bank schieben oder vordergründig loben, aber dann formale Steine in den Weg legen (“das müssen wir erst mal mit Abteilung X klären”).

Ähnlich gelagerte Fälle, wo Mitarbeiter entweder nicht selbst denken wollen oder ihnen Selberdenken und konstruktive Arbeit verboten wurde (oder wo Mitarbeiter einfach mal keine Lust haben, was manchmal auch ok ist), sind Argumente wie “ich hab keine Ressourcen dafür”, oder “mein Teamleiter hat mich für dieses Projekt nicht eingeteilt”. Was nicht heißt, dass das nicht manchmal valide Argumente sind. In der Praxis sind es aber einfach zu oft Ausreden.

Fazit: Mach doch mal einen Verbesserungsvorschlag!

Im Vortrag von Birgit Näther ist vieles brandaktuell. Er regt dazu an, Althergebrachtes regelmäßig unter die Lupe zu nehmen, bevor ein System zu komplex wird und sich selbst ad absurdum führt. Aber Achtung: Nicht alles, was alt ist, ist schlecht — im Gegenteil: Je älter, desto bewährter und unumstößlicher sollte etwas sein, schließlich hat es den Praxistest der Zeit bestanden. Das gilt aber nur, sofern das System dank seines tatsächlichen Nutzens alt geworden ist und nicht, weil eine IT-Chefin ein für Anwender grauenvolles System einfach nicht abschaffen wollte, oder weil die Zentrale in München halt zum 200. Mal das Verfahren vom letzten Jahr wieder als Vorlage für dieses Jahr verwendet, weil es schon immer so gemacht wurde.

Die durch ihre außergewöhnliche Produktivität berühmte Unternehmenskultur der DDR hat also mal wieder Recht: “Mach doch mal einen Verbess’rungsvorschlag!

[Und hier findet man übrigens das Buch von Birgit Näther]

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Lukas Oldenburg

Digital Analytics Expert. Owner of dim28.ch. Creator of the Adobe Analytics Component Manager for Google Sheets: https://bit.ly/component-manager